Drone Records
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HARTH, ALFRED 23 & WOLFGANG SEIDEL - Malcha

Format: CD
Label & Cat.Number: MOLOKO+ PLUS 087
Release Year: 2016
Note: ALFRED 23 HARTH (sax, voice, dojirak) and WOLFGANG SEIDEL (synth, guitar, percussion, vibraphon) teamed up again, together with FABRIZIO SPERA (Italian Jazz drummer) and Belgian artist NICOLE VAN DEN PLAS (singing, piano, etc.) for a often wild & open minded trip, carefully post-processed: "Anarchisch, polymorph-pervers, unsystematisch offen, honigplastisch... eine Explikation dieser unbedingten Freiheit" [Bad Alchemy]
Price (incl. 19% VAT): €15.00


More Info

Harth/Seidel/Spera/Van Den Plas: Malcha

Format: CD
Country: Korea, Italy & Germany
Released: 01.10.2016

Tracklist
01 Gate 2 Not
02 Ceremony Behind Buddha’s Garden
03 Begum Of Oudh
04 Resilient Cup Of Crushed Diamonds
05 Send A Revolver The Night Before The
00 Interview
06 Delhi Green Mousse

Musicians
Alfred 23 Harth – ts, ss, dojirak, voice
Wolfgang Seidel – buchla music easel, prepared guitar, perc, vibes
Fabrizio Spera – dr, perc
Nicole van den Plas – voice, piano, zither, balalaika, kalimba, whistling

Credits
Compositions by Alfred Harth, Wolfgang Seidel-Meissner, Fabrizio Spera
Recorded by Wolfgang Seidel at Exrotaprint Studio, Berlin, 2015.11.13
Production, arrangement, mix & premastering by A23H at LaubhuetteStudio Moonsun, Korea
Mastering by Wolfgang Seidel at Exrotaprint Studio, Berlin, 2016


MALCHA

Berlin, November 2015. In einem Café in Mitte, in der Auguststrasse, sitzen Alfred Harth (seit 15 Jahren auch in Seoul), Fabrizio Spera (Rom), Elliott Sharp (New York) und ich – Wolfgang Seidel (Berlin). Am Abend vorher hatten Alfred, Fabrizio und Elliott ganz in der Nähe gespielt, zusammen mit Kazuhisa Uchihashi (Tokio) und Clayton Thomas (Sydney), die nun schon unterwegs waren zu ihren nächsten Konzerten. Mit beiden wäre die Runde noch globaler gewesen, was in der Improvisierten Musik allerdings nichts besonderes ist. Das grosse „I“ bei Improvisierter Musik ist Absicht. Improvisierte Musik als eigenes musikalisches Genre – so wie die Neue Musik. Improvisierte Musik als Genre, dass sich von lokalen Traditionen emanzipiert hat und in der Musiker aus aller Welt miteinander spielen. Wäre der Vorsatz „post“ nicht so inflationär an alles mögliche geklebt, würde ich diese Musik postnational nennen. Im alten West-Berlin hatte ich einen Bogen gemacht um die Jazz-Szene. Die war mir zu bürgerlich und von einem altbackenden Handwerker-Ethos mit strikten Regeln, was man denn geübt haben müsse, ehe man es sich erlauben dürfe zu improvisieren. Da passte ich mit meiner Psychedelic Rock-Sozialisation nicht hinein. Anfang der 80er, im Windschatten von Punk, wurden Genregrenzen für einige Zeit durchlässig. In diese Zeit fällt dann auch das bisher einzige gemeinsame Konzert mit Alfred und meiner damaligen Band Populäre Mechanik. Dann war erst mal wieder Pause, die erst zu Ende ging, als sich ab der Jahrtausendwende die Szene Improvisierter Musik entwickelte, die in Berlin unter dem Label Echtzeitmusik agiert.
Als einzigem "Eingeborenen" fiel mir der Part zu, zu erzählen, wie sich die Gegend in den letzten zwei Jahrzehnten verändert hat. Eingeborener stimmt auch nur halb - als Westberliner habe ich diesen im Zentrum der „Hauptstadt der DDR“ gelegenen Teil der Stadt erst 1989 kennengelernt. Da war das Scheunenviertel genannte Areal hinter dem Hackeschen Markt grau und düster von verwahrlosten Häusern mit abbröckelndem Putz und leeren Wohnungen. Mich erinnerten die Straßen an das Westberlin meiner Kindheit, als die Spuren des Krieges noch überall sichtbar und die vorherrschende Farbe grau war. Das urbane Vakuum im Scheunenviertel füllte sich nach 1989 ganz schnell mit neuem Leben. In den leeren Läden entstanden Clubs und Galerien, bis die Gentrifizierung dem fröhlichen Experimentieren ein Ende setzte. Die Fassaden sind renoviert, die Läden elegant und teuer und die Galerien bieten Dekoratives für die obere Einkommensklasse.
Ein paar tausend Kilometer weiter östlich in Korea, ist die Welt noch geteilt. Im Schatten der euphemistisch DMZ – Demilitarized Zone – benannten Grenze zwischen Nord- und Südkorea, befindet sich Alfreds LaubhuetteStudio. Es klingt idyllisch, wenn er schreibt, dass Rehe dort herumstreunen und auf Fotos von seinen Exkursionen sieht er aus wie ein Botaniker auf der Jagd nach seltenen Schmetterlingen. Irgendwie erinnert mich das auch an die trägen Sommertage im ehemaligen Westberlin, wo man im Schatten der Mauer sein Bier trank. Solche dem Verwertungsdruck entzogenen Areale scheinen auf geheimnisvolle Weise der Kreativität besonders zuträglich sein.
Nach dem Frühstücksmeeting gingen wir drei – Alfred, Fabrizio und ich – dahin, wo die Stadt nur arm und kein bisschen sexy ist – in den Stadtteil Wedding. Dessen Wandlung vom Arbeiterbezirk zum deindustrialisierten Arbeitslosenbezirk hat viel leerstehenden Gewerberaum hinterlassen. In einer dieser ehemaligen Fabriken war ich mit meinem Studio eingezogen. Zwei Stunden später konnte ich zufrieden auf den Aus-Knopf der Aufnahmeapparatur drücken. Wohin diese musikalischen „Gespräche“ ohne jede Vorgabe oder Planung letztlich führen, ist immer wieder eine Überraschung. Begonnen hatte es vor fast fünfzig Jahren mit „herrschaftsfreier Musik“ – so das Konzept von Alfreds Gruppe Just Music. Ich spielte zur selben Zeit mit dem Beuys-Schüler Conrad Schnitzler "Total freie Musik". So stand es auf einem Poster. Über Conrad Schnitzler, der leider 2012 verstarb, hatten Alfred und ich uns näher kennengelernt.
Auf dem „Total freie Musik“-Plakat stand außerdem: jeder kann mitmachen. Bei anderer Gelegenheit war das Publikum aufgefordert, Transistorradios mitzubringen und während der Performance eifrig am Sendersuchlauf zu drehen. Die Verwendung von aussermusikalischen Geräuschen und die Technik der Collage sind für Alfred und mich früh zur Arbeitsweise geworden. Unsere CD Five Eyes ist so entstanden, als Collage aus Tracks, die wir uns um den halben Erdball schickten. Und nach Beendigung unserer Trio-Session im Wedding, war das noch nicht das fertige Werk. Zurück in Korea, ergänzte Alfred noch Passagen mit seinem Sopransaxophon aus dem 70er Archiv. Hinzu kamen gefakte Field-Recordings aus Indien. Nicole van den Plas schickte Gesangs- und Instrumentalaufnahmen (Voice & Bells, 40° Celsius und If Any, drei ihrer jüngsten CDRs) die sich wunderbar in das Gewebe von Klängen, das Alfred in seiner Laubhütte schuf, einfügten. Dieses Gewebe ist so dicht, dass ich erst nach mehrmaligem Anhören entdeckte, dass auch ein Track Eingang gefunden hatte, den ich ihm schon vor längerer Zeit geschickt hatte, in dem, als Erinnerung an unsere erste Westberliner Begegnung, die Sendekennung des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) zu hören ist. Genau das ist es, was den Spass an diesen Aufnahmen ausmacht. Man macht immer wieder noch Entdeckungen im Dickicht der Klänge.
Am Schluss wartet eine Aufgabe, um die ich mich gerne drücke. Eine Veröffentlichung muss einen Namen haben, die Tracks darauf auch. Bei Songs ist das ja einfach. Aber wir haben keine weitere Geschichte, die wir zur Musik erzählen. Bei uns ist die Musik die Geschichte. Wir machen abstrakte Musik und keine Programm- oder Illustrationsmusik. Wir denken beim Spielen an nichts ausser an die Klänge, die wir produzieren und wie diese sich mit den Sounds der Mitspieler verflechten. Conrad Schnitzler löste für sich das Problem, indem er irgendwann seine Kompositionen nur noch nummerierte. Er kam damit bis 830. Alfred löste das Problem, in dem er zunächst an unsere Café-Frühstücksrunde anknüpfte. Latte Macchiato? Nein „Malcha“. Er berichtete, dass das koreanische Getränk, mit dem man sich munter macht, Malcha heißt – ein grüner Tee, zu Pulver zerstampft und mit Bambusbesen wie Cappuchino aufgeschäumt. Da koreanische Restaurants gerade die neue Gründerwelle in Berlin sind, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Malcha zum neuen Hipster-Getränk wird.
Damit war ein Titel für die CD gefunden. Es fehlten noch die Titel für die einzelnen Stücke. Ueber Indien war Alfred auf eine andere Bedeutung von Malcha gestossen: Malcha Mahal – ein 600 Jahre alter, verfallender Palast in Delhi. In ihm leben zwei Geschwister, ein Prinz und eine Prinzessin, isoliert von der Umwelt. Prinz Ali Raza und Prinzessin Sakina sind die letzten Nachfahren einer aus Persien stammenden Dynastie, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts über das Königreich Oudh herrschte. Nach vergeblichem Aufstand gegen die britische Kolonialmacht wurde Oudh besetzt und die Herrscherfamilie befand sich auf der Flucht, da sie sich weder den Briten noch dem unabhängig gewordenen Indien unterwerfen wollte. Die letzte Begum von Oudh fand mit ihren Kindern schliesslich Zuflucht im Malcha Mahal, wo sie 1983 auf wahrhaft fürstliche Art Selbstmord beging. Sie trank ein Pulver aus den Splittern ihres Diamantringes. Ihre Kinder leben seitdem von der Aussenwelt isoliert im Dickicht des Malcha Mahal Parks. Das klingt nach exotischem Liebesromanstoff, in dem sich die britische Begeisterung für Spukgeschichten mit der mindestens ebenso grossen indischen Begeisterung für Geistergeschichten mischen, auf der Folie einer Reminizenz an Extremaussenseiter, die aus aristokratischem Stolz ein Leben lang in einer Gegenwelt verharren. Spätestens jetzt war unser anfänglicher Berlinausflug definitiv über andere Assoziationsebenen auf Reisen geraten.

Wolfgang Seidel, 2016.5.31



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