Drone Records
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HARTH, ALFRED 23 & WOLFGANG SEIDEL - Five Eyes

Format: CD
Label & Cat.Number: MOLOKO+ PLUS 078
Release Year: 2014
Note: great collaboration by these two legendary German underground musicians and improvisers, known for their work with CASSIBER, KLUSTER, ERUPTION, etc. etc.. => performed on reeds, trombone, synths, drums, percussion, etc. with additional vocals by guest musicians eight atmospheric tracks between Jazz, Noise and (Ambient) Industrial collage were created...we love it!! Comes with long liner notes by WOLFGANG SEIDEL about secret services...
Price (incl. 19% VAT): €15.00


More Info

"Credits:
reeds, trombone, key, misc: Alfred 23 Harth
drums, percussion, misc: Wolfgang Seidel
vocals: Nicole van den Plas, Bill Shute (04),
Boris Stout (06), A23H (08)
compositions:
Alfred 23 Harth, Wolfgang Seidel-Meissner
recorded in Berlin and Seoul
produced & mastered by A23H at LaubhuetteStudio Moonsun, Korea, 2014
cover drawing: Wolf Pehlke
cover: Robert Schalinski
Thanks to Bill Shute from Kendra Steiner Editions for triggering this album.

Five Eyes Long Distance Call

Seoul und Berlin – das ist weit voneinander entfernt. Bei heutiger Musikproduktion sind geografische Entfernungen kein Hindernis. Und die beiden Komponisten von Five Eyes sind sich zugleich nah und fern, gibt es doch in unseren Biografien trotz unterschiedlicher Wege und Orte immer wieder Punkte, wo wir aus unterschiedlichen Richtungen kommend zu gleichen künstlerischen Fragestellungen gelangt sind. Alfred Harth ist in der Nähe von Frankfurt/Main geboren, wo man in der Philosophie und Kunst nach Westen, nach Frankreich und über den Atlantik blickte. Ich bin im selben Jahr in West-Berlin geboren, das damals eine mit viel Subventionen künstlich am Leben erhaltene Geisterstadt, der Hinterhof der westlichen Welt war. Für Alfred war Jazz die klangliche Verheißung, dass es etwas anderes geben muss, als das verdruckste Nachkriegsdeutschland. Für mich als Hinterhofgöre und in einer Stadt, die keine nennenswerte Jazz-Szene hatte, erfüllte Rock n’ Roll die gleiche Funktion. Für Alfred führte der Weg in die freie Improvisation, seine Gruppe Just Music verkündete Ende der 60er in einem Flyer als Konzept ein „Modell für annähernd herrschaftsfreie Kommunikation und Interaktion“ sein zu wollen. Zur selben Zeit passierte eine ähnliche Entwicklung bei denen, die von der Rockmusik her kamen. In der experimentierfreudigen Phase des Psychedelic Rock lösten sich vorgegebene Strukturen auf. Das brachte uns das erste Mal am gleichen Ort zusammen, in Conrad Schnitzlers Zodiak Free Arts Lab, wo sich für ein knappes Jahr Free Jazz, Happening und das, was später mal Krautrock genannt werden sollte, mischte. Die Sessions mit Conrad Schnitzler, die in eine langjährige Zusammenarbeit mündeten, waren meine erste Begegnung – wie es ein Flyer verkündete – mit „Total freie[r] Musik“. Schnitzler, ein Beuys-Schüler, bezeichnete sich als Intermedia-Künstler, um bewusst alle Kategorisierung und alle Begrenzung auf ein Medium zu vermeiden. Auch wenn Alfred diesen Begriff nie verwendete, würde er auf ihn passen als jemandem, der gleichermaßen in der Musik, Literatur und den visuellen Künsten unterwegs ist. Für beide war Fluxus und die Begegnung mit Künstlern wie Nam June Paik eine Weichenstellung.

Den nächsten Schritt vollzogen Alfred und ich von unterschiedlichen Ausgangspositionen in dieselbe Richtung – hin zum gesprochenen oder gesungenen Wort. Ich schloss mich einer Lehrlingstheatergruppe an, aus der dann die Band Ton Steine Scherben hervorging, die Rockmusik und radikale, auf Deutsch gesungene Texte zusammenbrachte und auf deren erster Platte auch ein Stück von Hanns Eisler zu hören ist. Mit dessen Musik und der Verbindung von Musik und Poesie jenseits des Jazz und Lyrik-Klischees beschäftigte sich auch Alfred zusammen mit Heiner Goebbels. Während die Scherben das Straßentheater bald zugunsten der Rock-Bühne hinter sich ließen, gehörten die beiden zu den Mitbegründern des Sogenannten linksradikalen Blasorchesters, das die Musik auf die Straße brachte. Der nächste Schub kam durch Punk und vor allem durch die in dessen Windschatten blühenden Experimente, die Stilmittel der musikalischen Avantgarde, Collage- und Montagetechniken mit der Energie von Rock zusammenbrachte. Für Alfred war das dann unter anderem die Band Cassiber zusammen mit Chris Cutler, Christoph Anders und Heiner Goebbels. Für mich war das in Berlin die Gruppe Populäre Mechanik, die noch als reine Gitarrenband in der Rocktradition begann und sich mehr und mehr Elektronik, als auch durch die Erweiterung mit Bläsern Jazzeinflüssen hin öffnete. Diesmal bewegte sich Alfreds und mein musikalischer Weg so weit aufeinander zu, dass es tatsächlich 1983 zu einem gemeinsamen Konzert kam.

Ein Ausschnitt aus diesem Konzert fand dann seinen Weg auf Alfreds Platte Sweet Paris, einer 1990 erschienenen Text- und Musikcollage – ein multimediales Tagebuch, in dem Alfred seinen Briefwechsel mit dem damals in Paris lebenden Maler Wolf Pehlke – er machte die 5E-Coverzeichnung - umsetzte und in das Solos, Fieldrecordings und Ausschnitte aus zahlreichen musikalischen Begegnungen einflossen. Zu Cut-up mit seiner Eröffnung neuer Zusammenhänge und zu Collage, mit der man Realität in die Komposition holen konnte, hatte Alfred vor allem auch über Literatur, über Brinkmann und Burroughs, und seine Arbeit als visueller Künstler gefunden. Die Entwicklung des Samplers machten die vorher ans Studio gebundenen, geduldigen Techniken der Musique Concrète musikalisch handhabbarer und zu einem Ausweg aus einem linearen Zeitbegriff, der sich mit seinem Versprechen einer höheren Ordnung in der Musik immer weniger durchhalten ließ.

Für mich führte der Weg von der noch von diesem Heilsversprechen angetriebenen Musik der Scherben, über die Auflösung der Zeit in psychedelischen Krautrock-Erfahrungen in die Fluxus-inspirierte Zusammenarbeit mit Conrad Schnitzler, der Ende der 1970er mehr als ein Dutzend Kassettenrecorder stapelte, mit denen er eigenes und gefundenes Material bei Konzerten mischte.

Mit Five Eyes, für die wir monatelang Tracks her- und hinschickten, auseinandernahmen und neu zusammensetzten, konnten wir den Faden wieder aufnehmen – denn nach der Session, die auf Sweet Paris dokumentiert ist, trennten sich die Wege erst einmal wieder. Für mich gab es Ende der 80er mit dem Untergang des alten Westberlins auch persönlich eine Umbruchzeit, die dazu führte, dass die Musik erst einmal weitgehend Pause machte. Als ich dann wieder anfing, aktiv zu werden, sah man sich als Musiker einer veränderten Situation gegenüber. Eine Musik, die sich mehr oder weniger gradlinig auf ein Ziel bewegt, war endgültig obsolet geworden. Die Durchsetzung von There-Is-No-Alternative als herrschender Ideologie brauchte ebenfalls eine musikalische Antwort. Dazu kommt die durch die Digitalisierung gigantisch beschleunigte Bilderflut, in deren Geflicker alle Konflikte dieser Welt gleich aussehen. Die Frage nach Gut und Böse reduziert sich da auf die Frage, welche Seite die emotionaleren Bilder liefern kann, die dann am effektivsten wirken, wenn sie an vorhandenes Ressentiment andocken können. Als dann beim Anschlag auf das World Trade Center etliche Antiimperialisten im Anblick der Katastrophe applaudierten, wurde klar, dass man noch einmal neu nachdenken muss.

Alfred zog es nach Südkorea, das in den letzen 100 Jahren von der Geschichte nicht gut behandelt wurde. Japanische Besetzung, Unterdrückung und Ausbeutung, dann der Koreakrieg, in dem das Land nur Figur auf dem Schachbrett des Konfliktes zwischen Ost und West war. Jetzt ist das Land eingezwängt zwischen dem autoritären Nordkorea und dem wirtschaftlich dominierenden Japan, das nie eine Debatte über seine gewalttätige Vergangenheit geführt hat. Ich dagegen brauchte keinen Ortswechsel vorzunehmen. In Berlin wechselte sich der Ort in rasantem Tempo selber aus – zumal aus der Sicht des Westberliners. Aus der verschlafenen Nische wurde eine Wir-sind-wieder-wer-Hauptstadt eines Landes, das ziemlich schnell an seine alten Hegemonialansprüche anzuknüpfen begann. Nach außen wie innen wurde dies zunehmend aggressiv durchgesetzt, begleitet und gefeiert von einem Kulturbetrieb, der mehr und mehr nationales Pathos produziert.

Vor ein paar Jahren kam über den inzwischen verstorbenen Conrad Schnitzler der Kontakt zwischen Alfred und mir wieder zustande. Dabei stellten wir fest, dass wir von den beiden Enden der Welt, an denen wir inzwischen gelandet waren, zu ähnlichen Überlegungen gekommen waren. Zumal die Enden der Welt sich immer ähnlicher werden. War in den 60ern ein Lied, dass man gerne sang, Break on through to the other side, ist man heute damit konfrontiert, dass es auf der anderen Seite genauso oder schlimmer aussieht. Die Propaganda für das Bestehende funktioniert heute nicht mehr durch Lügen. Man gibt alle Kritik zu, um dann darauf zu verweisen, dass alles andere schlimmer ist, was durch den tatsächlich stattfindenden Angriff der Barbarei auf das Bisschen erreichten Fortschritts eine fatale Komplizenschaft erzeugt. Wie positioniert man sich als Musiker in einer Welt, die sich gleichzeitig in zwei nur scheinbar entgegengesetzten Richtungen entwickelt? Auf der einen Seite eine fast unendliche individuelle Freiheit, die keine Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen ist, sondern bloßes Selbstunternehmertum in einem Dog-eats-dog-Kapitalismus. Parallel dazu entwickelt sich der Staat, den die neoliberalen Apologeten angeblich mindestens verschlanken, am liebsten aber abschaffen wollen, zu einer immer perfekteren Kontroll- und Repressionsmaschine.

Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die gar keine persönliche Erinnerung mehr daran hat, dass irgendwann einmal etwas Anderes war. Dabei war das Andere nicht automatisch besser, aber allein durch seine Existenz machte es klar, dass die Beschaffenheit der Gesellschaft, in der wir leben, verhandelbar ist. „Herrschaftsfreie Musik“ ist nach wie vor eine mögliche Antwort. Wobei das nicht nur heißt, frei von einer vorgegebenen Komposition oder einer Führungsfigur zu sein. Herrschaft maskiert sich heute vor allem als Sachzwang. Dagegen steht eine Musik, in der die Musiker stets die freie Entscheidung über die Musik und ihre Weiterentwicklung haben, als eine ständige, für den Hörer nachvollziehbare Verhandlung. Die andere Antwort ist das Hereinnehmen und Rekontextualisieren von ausgewählten Klangsplittern als Spuren von Realität, Zitate, Field-Recordings, um das abstrakte Medium Musik mal assoziativ, mal verwirrend und zum Neudenken auffordernd an die umgebende Wirklichkeit anzubinden. Beides kann zu einer Entdeckungsreise werden.

Wolfgang Seidel, 23.10.2014" [credits & liner notes]